Mit dem Thema Grenzen haben wir ein Leben lang zu tun - in der Partnerschaft und Familie, im Beruf, im Bekannten- und Freundeskreis - kurz: sobald wir mit anderen in Kontakt sind. Wie groß ist mein Freiraum und der der anderen? Wo hört er auf? Wo will ich mich abgrenzen? Wo und wie setze ich dem anderen Grenzen?
Ganz besonders gefordert sind wir im Alltag mit Kindern. Wir sind vielen Ansprüchen ausgesetzt - Ansprüchen von außen, aber vor allem den eigenen. Eine Vielzahl an Ratgeberliteratur macht es einem oft auch nicht leichter - im Gegenteil: Oft führt sie zu Ratlosigkeit und Ohnmacht - zu einem Gefühl, es nie richtig und niemandem recht zu machen. Deshalb sind die Erfahrungen der Eltern wichtig und vor allem der Erfahrungsaustausch.
Will ich es allen recht machen? Muss ich alles richtig machen? Diese hohen Ansprüche machen uns unsicher und führen oft schnurstracks in ein Gefühl der Überforderung gewürzt mit schlechtem Gewissen. Mütter sind ja an allem schuld, bekommen wir oft genug mehr oder weniger subtil vermittelt. Hohe Erwartungen und vor allem Perfektionismus kratzen an unserem Selbstwertgefühl, dabei machen uns ja gerade unsere Schwächen menschlich. Und gerade Kinder provozieren uns so lange, bis die menschliche Seite durchbricht. Sie bringen uns an die Grenzen.
Das rät Jan Uwe Rogge. Uns täglich 20 Fehler erlauben, denn gerade Fehler bringen uns weiter. Das heißt nicht, sich gehen zu lassen, sondern mehr Gelassenheit zu entwickeln.
Gewohnheiten, Rituale, Routinen geben Sicherheit und Verlässlichkeit und verbinden Freiheit mit Ordnung. Sie sind Orientierungspunkte - Markierungen, die manchmal nur eine Zeitlang gültig sind. Aber Grenzen reizen auch. Manchmal muss man die Grenze überschreiten, um sie zu erfahren. Wer Kinder aber durch zu enge Grenzen vor der Wirklichkeit schützen und ihnen Erfahrungen ersparen will, macht sie lebensuntüchtig.
Grenzen setzen meint, sich gegenseitig in der Persönlichkeit zu achten und zu respektieren. Es herrscht viel Unsicherheit, weil man das Beste für das Kind will und meint, das schließe Grenzen aus. Irrtum! So herrscht in manchen Eltern-Kind-Beziehungen eine lange Leine: Eltern dulden und erdulden solange, bis es - im wahrsten Sinne - knallt.
Mein größter Lehrmeister punkto Grenzen war (und ist immer noch) Martin, mein zweiter Sohn. Ich genoss seine fröhliche Lebhaftigkeit, seinen unbändigen Tatendrang, seine Neugier und schier unerschöpfliche Kreativität. "Er braucht wohl besonders viel Freiheit", meinte ich - und damit überforderte ich manchmal ihn und mich.
Sowie er laufen konnte, lief er meistens in eine andere Richtung als wir. Das Unangenehmste aber: Er lief immer weg. Keinen Moment konnte ich ihn unbeobachtet lassen. Und das monatelang. Natürlich redete ich mit ihm, ging auf seinen Bewegungsdrang ein, ging auch mit ihm allein spazieren, wenn sein Bruder im Kindergarten war... einmal folgte ich ihm unbemerkt eine lange Strecke, schnappte ihn dann mit den Worten: "Du darfst nicht weglaufen." (Er wäre immer noch weitergelaufen.) Wie würde ich wohl zurechtkommen, wenn bald das dritte Kind da ist? Einmal ließ ich mich hinreißen zu einem Klaps auf seinen Popo, als ich ihn entnervt einholte. Das war nun ganz gegen meine Überzeugung und ich fühlte mich als pädagogische Versagerin. Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass dies alles nichts nutzte: Ich war einfach zu wenig klar.
Heute würde ich ihm seinen Freiraum genau abstecken (Bis hierher darfst du.), würde ihn schneller an die Hand nehmen, mit ihm ins Haus gehen, wenn er sich nicht an die Grenze hält... Heute bin ich allerdings nicht mehr im Alltagsstrudel mit Kleinkindern und dazu noch um ein paar Erfahrungen reicher.
Eine Erfolgsmeldung kann ich dennoch berichten (zu meiner Ehrenrettung): Ich erzählte Martin eine Geschichte von einem kleinen Jungen, der lief und lief, bis er nicht mehr heimfand. Die Geschichte hatte ein Happy End. Martin musste herzlich lachen - und lief von diesem Tag an nicht mehr weg (Das geschah zum Glück noch bevor seine Schwester auf die Welt kam).
Äußere Grenzen sind uns meist klar. Niemand wird z. B. Kleinkindern viel Freiraum im Straßenverkehr gewähren oder sie auf Besuch mit schmutzigen Schuhen in der Wohnung tollen lassen. Bei persönlichen Grenzen wird es schon schwieriger. Wichtigster Ausgangspunkt sind die eigenen Grenzen und die sind bei jedem verschieden. Der eine verträgt Lärm und Krach nur schwer, den anderen stört das wenig. Dafür aber regt ihn die Unordnung auf.
Wir brauchen Mut, um zu eigenen Grenzen zu stehen und Respekt vor den Bedürfnissen und Grenzen der Kinder. Was aber, wenn Mutter und Vater verschiedene Grenzen haben oder wenn das Kind bei Oma alles darf? Kinder können die Verschiedenheiten der Persönlichkeiten respektieren lernen. Sie merken sehr bald, wo sie was dürfen.
Kinder brauchen großen Freiraum, aber auch klare Grenzen. Überlegen wir uns, welche Grenzen und Regeln wir unbedingt brauchen und auf welche wir nötigenfalls verzichten können. Kinder bis zu fünf Jahren können sich maximal 8 - 10 Regeln merken. Grenzen und Regeln, wenn sie einmal getroffen und formuliert sind, sollten auch eingehalten bzw. eingefordert werden.
So nehmen wir die Kinder und uns selbst ernst.
Wer ständige Grenzüberschreitungen ignoriert, behindert das Selbstwertgefühl. Natürlich aber ändern sich die Grenzen mit der Entwicklung der Kinder und verlangen nach neuen Vereinbarungen.
Grenzen setzen kann nur eine Persönlichkeit, die sich mit all ihren Vorzügen und Unvollkommenheiten annimmt, weil nur sie die verschiedenen Persönlichkeiten der Kinder annehmen kann. Es braucht die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebens- und Familiengeschichte: Welche Grenzen habe ich erfahren? Welche Verbote oder Strafen? Wurden meine Bedürfnisse respektiert? Habe ich Grenzen als Niederlage oder Erniedrigung erlebt? Will ich vielleicht alles anders machen?
Freiheit und Selbständigkeit bedeutet nicht die Abwesenheit von Grenzen. Einfach machen lassen bringt eine unüberschaubare Weite und damit Unsicherheit. Das führt leicht zu Aggression, Übermotorik oder zu Distanzlosigkeit und Überforderung. Grenzenlosigkeit können Kinder als Gleichgültigkeit empfinden. Zu enge Grenzen hingegen entmutigen und begrenzen Erfahrungen.
Kinder brauchen feste, klare und konsequente Leitfiguren, an denen sie sich orientieren und auch reiben können. Grundvoraussetzung ist Respekt und Achtung gegenüber dem Kind - Respekt und Achtung geben und auch vom Kind einfordern.
Verbote führen eher zu Machtkampf, Heimlichkeiten und Lügen und zu schlechtem Gewissen. Strafen blockieren, machen und halten Kinder klein, nehmen sie nicht ernst. Sie deuten darauf hin, dass Absprachen und Regeln fehlen, um (kritische) Alltagssituationen zu bewältigen. Liebesentzug, Ignoriert werden ist für Kinder besonders arg. Gerade wenn sie schlimm waren, brauchen sie die Zuwendung am meisten. So sehnt sich der kleine Max (aus dem Buch: Wo die wilden Kerle wohnen), als er genug hatte vom Herumtollen mit den wilden Kerlen, nach jemandem, der ihn am aller, aller liebsten hat.
Wer Grenzen setzt, muss über Konsequenzen bei Überschreitung nachdenken. Wenn nämlich ein Verhalten das eine Mal durchgelassen wird und das andere Mal mit einer "Explosion" quittiert wird, schafft dies Verunsicherung. Das Kind muss so immer wieder ausprobieren, wie weit es gehen kann. Konsequenzen (auf die Sache bezogen) - natürliche, logische Folgen haben nichts mit Strafe zu tun.
Ich mag nicht in der ganzen Wohnung Brösel und andere Spuren vom Essen. Also: Essen und Getränke bleiben am Esstisch! Es kann sein, dass ich dem Kind helfen muss, diese Regel einzuhalten. Wenn nötig, werde ich es an der Hand nehmen und mit ihm zusammen das Brot oder den Apfel etc. zurück an den Tisch bringen.
Handeln statt mit allzu vielen Erklärungen auf das Kind einreden!
Entscheidend ist auch die Sprache: Wenn ich in der Ich-Form spreche und ein klares Nein sagen kann, scheint meine Persönlichkeit mehr durch. Statt "Man tut das nicht" oder "Warum machst du das?" kann ich sagen: "Ich will nicht, dass du schlägst, das tut weh."
Erwachsene müssen NEIN sagen können! (Kinder sollen NEIN sagen dürfen.)
Aggression wird oft nur negativ gesehen. Entfaltung von Persönlichkeit ist aber ohne Aggression nicht möglich. Denn Aggression im positiven Sinne heißt: auf etwas zugehen, etwas in Angriff nehmen. Deshalb sollen wir Aggression nicht einfach unterdrücken, sondern ihr Raum, Zeit und Regeln geben.
Bei Kindern zwischen ca. 4 und 9 Jahren beobachten wir - oft mit Missfallen - Ringkämpfe und Bandenbildung. Das hat symbolische Funktion: Es geht um Abgrenzen und Solidarität und auch darum, Körperlichkeit selbstbewusst auszuleben.
So nehmen wir aggressive Persönlichkeitsanteile ernst, statt sie zu verdrängen, zu übersehen oder gleichgültig zu behandeln.
Auf Missfallen stößt bei vielen auch die Lust der Kinder am Schießen. Wenn kein Gewehr vorhanden ist, wird eben die Banane oder ein Stück Holz zum Revolver.
"Ich mag nicht, dass hier geschossen wird, aber ich verstehe, dass es euch Spaß macht."
So kann ich eine Grenze setzen, ohne die aggressiven Anteile zu verurteilen und zu unterdrücken.
In der Spielgruppe von Judith waren eine Zeit lang Schimpfwörter aktuell. Judith führte daraufhin eine "Schimpfwörter-Zeit" ein: Welche Schimpfwörter kennen wir? Fällt euch noch eins ein? Und noch eines ? - Sie durften ganz laut gesagt werden. - Das Interesse daran war bald verschwunden.
Nehmen Sie ein Blatt Papier und schreiben Sie spontan auf, welche Grenzen und Regeln Sie in Ihrer Familie oder Kindergruppe eingehalten haben wollen.
Als äußere Grenze könnte vielleicht stehen: Nicht mit schmutzigen Schuhen ins Treppenhaus!
Als persönliche Grenze: Kein lautes Geschrei im Kinderzimmer!
Grenzen und Regeln sollen, wenn sie einmal getroffen und ausformuliert sind, auch eingehalten werden.
Kinder bis zu fünf Jahren können sich maximal 8 bis 10 Regeln merken.
Lesen Sie die von Ihnen aufgelisteten Sätze durch und entscheiden Sie sich:
Geben Sie Kindern großen Freiraum, setzen Sie aber auch klare Grenzen
Wann haben Sie sich das letzte Mal darüber gefreut, dass Ihr Kind widersprochen hat oder "ungehorsam" war?
Kinder brauchen Grenzen
Eltern setzen Grenzen
Ohne Chaos geht es nicht
Das kompetente Kind
Kinder fordern uns heraus
Starke Kinder - zu stark für Drogen
Die ersten fünf Jahre
Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen
Erziehen zum Sein
Freiheit und Grenzen
Ein Kinderbuch zum Thema möchte ich noch besonders empfehlen: "Wo die wilden Kerle wohnen".
Erwachsene spricht dieses Buch manchmal nicht besonders an. Aber bei vielen Kindern ist es ein Renner.