ifs_zeitschrift_2_15_sc

5 Winter 2015 mit anderen teilt und deshalb zu ihnen Bezie- hungen aufnehmen muss und kann. So entsteht „Urvertrauen“, Halt und Orientierung. Die gene- tisch verankerte Neugier, das Leben zu lernen, der Wunsch nach Schutz wie die Lust, das Leben auch zu genießen, kommen von Innen, sind uns sozu- sagen mit der Aufforderung eingraviert, Leben und Gesundheit in die Hand zu nehmen und zu entwickeln. Damit aber aus Wissensdurst, Entdeckerfreude und den zu erwartenden Erfolgen wie aus den weniger gewünschten, aber ebenso den selbstver- ständlichen Enttäuschungen eine immer wieder zupackende Gestaltungskraft, tiefe Lebensfreude und ein Entwicklungspotential bis ins hohe Alter werden kann, bedarf es des Vertrauens in den Boden, der uns trägt, der Liebe zu den Menschen und Dingen der Welt und der Hoffnung auf eine mögliche Zukunft, die sich als lebenswert erweist. Wenn ein Mensch insgesamt nicht mehr vertraut, verliert er sich selbst und ist zunehmend verlo- ren. Die persönlichen wie die sozialen Folgen von Vertrauens-, Liebes- und Hoffnungsverlust sind Rückzug, Hass, Gleichgültigkeit, Abwertung ande- rer und mehr. Misstrauen, Konkurrenz und Macht- streben vergiften viele Beziehungen und machen die Menschen wie unsere Gesellschaft krank. Freiheit, Friede und soziale Gerechtigkeit, aber auch Gesundheit als ein umfassendes Wohlbefin- den sind keine Staatsgarantien! Ihre Kräfte enden bereits an der Haustür unseres eigenen Lebens und an den Grenzen unserer Phantasie. Vertrauen in die Bewohnbarkeit des Lebens Vertrauen ist Übungssache. Leben ist ohne festen Wohnsitz, mit jedem Herzschlag in Bewegung und immer unterwegs! Aber gleichzeitig ist Leben auch immer vor Ort, also sesshaft, denn die mensch- liche Existenz ist „leibhaftig“ und kann sich von dieser Angebundenheit als Bedingung des Überle- bens nicht trennen. Als kleines befruchtetes Ei beginnt der Mensch die Suche nach einer Bleibe mit einer „Hausbeset- zung“, der Einnistung in eine Gebärmutter. Blindes Vertrauen ist gefragt. Diese erste Wohnung, Ein- zimmerapartment mit Badewanne und Küchen- benutzung, zeigt, dass das Unterwegssein ins eigene Leben im Inneren eines anderen Menschen- Hauses beginnt und weiter lebenslang auf Koope- ration, Austausch und Auseinandersetzung ange- wiesen bleibt. Zusammenleben und Übungsfelder für Vertrauen auf vielfältige Art. Um ein Dach über dem Kopf zu finden, muss der Mensch also immer gemeinsame Sache mit der Welt machen, die ihn umgibt: sich binden, einbinden und wieder entbinden. Nach der Zeugung bindet sich der kleine Mensch in den mütterlichen Organismus ein, er entwickelt sich dabei selbst und verändert sichtbar auch sein Zuhause, den Mutterleib. Nach neun Monaten bedingungslosem Asyl kommt mit der fristlosen Kündigung die Aufforderung, das Licht der Welt zu erblicken – auch wenn es da draußen dunkel zu sein scheint und oft auch ist. Wieder ist Vertrauen verlangt. Leben beginnt mit einer „Ent- bindung“, einem Aus- und Umzug, der erst mit dem Tod endet. Innere und äußere Beheimatung gehen immer Hand in Hand. Jede Behausung, jeder Wohnungswechsel kann zum Erlebnis des Glücks und der Vertrautheit werden, wenn Ankunft gelingt, aber auch zum Erleben von Fremdheit, Entfremdung und Misstrauen. Auch Ankunft und Abschied geben sich im Unterwegs- sein des Lebens ständig die Hand. Im Rahmen unserer Biografie sind wir immer auf Wohnungs- suche, ziehen in unser Leben ein und wieder aus, führen hinter irgendwelchen Mauern ein „gemä- ßigtes“, „glückliches“, „eingekerkertes“ oder „ängst- liches“ Leben. Wer mit sich selbst vertraut ist, sich seelisch, geistig und sozial zu Hause fühlt, wer weiß, wo Fenster und Türen sind, ummit sich selbst und der Welt im Austausch zu sein, kann sich besser gegen Stürme und Wetterlagen des Lebens schützen. Das Haus ist ein Gefäß, in dem wir uns im Angesicht der Unendlich- keit auf unser endliches Maß beschränken. Und als leib- liches Haus, das wir nie verlas- sen können, hütet es das bio- grafische Geheimnis unseres Lebens. Der lebendige Leib ist die Basis allen Vertrauens. Leben braucht ein Motiv, eine Anstiftung und lebt „Wer mit sich selbst vertraut ist, sich seelisch, geistig und sozial zu Hause fühlt, wer weiß, wo Fenster und Türen sind, um mit sich selbst und der Welt im Austausch zu sein, kann sich besser gegen Stürme und Wetterlagen des Lebens schützen.“ Zur Person Prof. Dr. Annelie Keil Sozial- und Gesundheits­ wissenschafterin, ist emeritierte Professorin und war Dekanin an der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesund- heitswissenschaft und psychoso- matische Krankenforschung, Bio- grafie- und Lebensweltforschung sowie die Arbeit mit Menschen in Lebenskrisen. Umfangreiche Vortragstätigkeit, Radio- und Fern- sehsendungen, Autorin mehrerer Bücher.

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