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www.ifs.at Seite 26 Zu Beginn der achtziger Jahre wurde in Ulm eine Planungsgruppe beauftragt, eine Untersuchung über die Lebenssi- tuation, Bedürfnisse und Wünsche von LangzeitpatientInnen in psychiatrischen Einrichtungen durchzuführen. Die vor- gefundenen Lebensbedingungen waren alles andere als optimal. Im abschlie- ßenden Bericht mit dem treffenden Ti- tel „Ein Bett ist keineWohnung“ wurden die Anliegen der PatientInnen auf den Punkt gebracht: „...sie wollen ihre Zim- mer selbst einrichten, wünschen sich häufiger Besuch und fordern mehr Selb- ständigkeit. Kurzum: Sie verlangenmehr Rücksicht auf die eigene Identität“. 1 Beginn der Enthospitalisierung Auch im Landesnervenkrankenhaus Valduna gestaltete sich die Lebenssitua- tion der rund 240 LangzeitpatientInnen in den frühen achtziger Jahren ähnlich. Erst unter Primar Dr. Albert Lingg wur- de mit der Ausgliederung begonnen. Zielsetzung der sog. Enthospitalisierung war es, Menschen, die zum Teil über viele Jahre hinweg in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht waren, in geeignetere Einrichtungen zu verlegen und somit deren Lebensqualität zu er- höhen. In knapp zehn Jahren gelang es, den Bettenstand der Langzeitpsychiatrie von 289 auf 190 zu reduzieren. Verschlossene Türen: Die Anfänge der IfS-Patientenanwaltschaft 1991 – vor rund 20 Jahren – wurde mit dem Unterbringungsgesetz klar gere- gelt, dass PatientInnen mit geistiger Behinderung im psychiatrischen Kran- kenhaus keinen freiheitsentziehenden Maßnahmen unterworfen werden dür- fen. Noch war der Großteil der Stationen und Therapieeinrichtungen versperrt. PatientInnen, die in der Valduna „wohn- ten“, waren in Mehrbettzimmern unter- gebracht, vielfach sogar inWachsälen, in denen sie sich nicht häuslich einrichten konnten. Kleidung und persönliche Ge- genstände wurden zum Teil in einem Kasten versperrt – nach Taschengeld musste gefragt werden. Insgesamt gab es nur wenig Privatsphäre und das Per- sonal konnte aufgrund der Strukturen des Klinikalltages nur wenig Rücksicht auf die Individualität der PatientInnen nehmen. Eine sofortige Eingliederung lang- jähriger PsychiatriepatientInnen mit geistiger Behinderung in spezielle Ein- richtungen war jedoch nicht möglich. Angemessene Wohnformen und au- ßerklinische Versorgungsstrukturen mussten erst neu aufgebaut und eine Finanzierung durch das Land Vorarlberg gesichert werden. Da laut dem Unterbringungsgesetz eine „Unterbringung“ von PatientInnen mit geistiger Behinderung nicht mehr erlaubt war, kam es anfangs mehrfach zu Diskussionen mit den behandelnden ÄrztInnen. Mit der Diagnose „Pfropfpsy- chose“ – eine psychische Erkrankung, die sich auf die bestehende geistige Behin- derung „hinaufgepfropft“ habe – wurde teils versucht, die neue gesetzliche Vor- gabe zu umgehen. Österreichweit gab es hierzu unzählige Gerichtsentscheide, wobei ein Urteil des Obersten Gerichts- hofs in letzter Instanz die Absicht des Gesetzgebers – eine Ausgliederung von LangzeitpatientInnen insbesondere von PatientInnen mit geistiger Behinde- rung – bekräftigte. Nun war es an den Bundesländern zu handeln: Geeignete Einrichtungen mussten aufgebaut und finanziert werden. Hinsichtlich der Ausgliederung von Pa- tientInnen mit geistiger Behinderung kam Vorarlberg österreichweit eine Vor- reiterrolle zu. Schon 1994 waren prak- tisch alle PatientInnen mit geistiger Be- hinderung in Wohngemeinschaften der Lebenshilfe untergebracht. Auch in den folgenden Jahren wurden Langzeitpa- tientInnen sukzessive in Wohngemein- schaften, Kolpinghäuser, Alters- oder Pflegeheime entlassen. Aktuell werden nur noch sieben PatientInnen dauerhaft im LKH-Rankweil behandelt. Durch die geschilderte Ausgliederung und Enthospitalisierung hat sich die Lebenssituation von Menschen mit Be- hinderung und/oder psychischer Erkran- kung sicherlich erheblich verbessert. Sie gibt uns aber noch keine Auskunft darü- ber, ob das Ziel der Enthospitalisierung im Sinne der gewählten Überschrift „Ein Bett ist keineWohnung“ bereits erreicht werden konnte. Bevor diese Frage be- antwortet werden kann, ist es hilfreich, kurz auf die gesetzlichen Rahmenbe- dingungen und die fachliche Diskussion einzugehen. UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung Gemäß Artikel 19 der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Be- hinderung, die Österreich im Jahre 2008 ratifiziert hat, ist es Aufgabe des Staates, wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen, um Menschen mit Behinde- rung die volle Einbeziehung in die Ge- meinschaft (Inklusion) und Teilhabe in der Gemeinschaft (Partizipation) zu er- leichtern. Dazu gehören die freieWahl des Aufent- haltsortes und die freie Entscheidung, wo und mit wem Menschen mit Behin- derung leben wollen. Auch der Zugang zu gemeindenahen Unterstützungs- diensten ist zu gewährleisten. In der fachlichen Diskussion wird für ein Gelingen einer Enthospitalisierung neben einer formalen auch eine inhaltli- che Enthospitalisierung gefordert: • Soziale, personale und gesellschaftli- che Integration • Gewährleistung eines normalen Ta- ges-, Wochen- und Jahresrhythmus und eines normalen Lebenslaufs • Mit- und Selbstbestimmung der Be- wohnerInnen • Ermöglichung einer angemessenen Beziehung zwischen den Geschlech- tern • Assistenz als Hilfe zur Selbsthilfe • EmanzipationundAutonomie entspre- chend den jeweiligen Möglichkeiten • Beachtung und Respektierung der Per- son, ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten • Arbeits-, Bildungs- und Freizeitmög- lichkeiten außerhalb des Wohnbe- reichs • Psychosoziale Angebote zur Bewälti- gung bzw. Kompensation von psychi- „Ein Bett ist keine Wohnung“ Mehr Lebensqualität für LangzeitpatientInnen

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