ifs_zeitschrift_1-11

Die Soziologen haben eine neue „Krank- heit“ der modernen Gesellschaften und Wirtschaft entdeckt. „Disembedding“ nennen sie das Gefühl, nirgends dauer- haft zuhause und wirklich eingebunden zu sein. Diese Beobachtung bezieht sich ur- sprünglich auf MitarbeiterInnen und Familien in global tätigen Unterneh- men, deren Arbeitsbedingungen die Auflösung von verbindenden Beziehun- gen sowie den Verlust von Identität und Selbstwertgefühl fördern. Heute ist diese Symptomatik auch in unserer lokalen und regionalen Welt angekommen, bei den Menschen und Familien – auch – in unserem Land. Ausgelöst und verstärkt hat diese Ent- wicklung der rasante und dramatisch verlaufende Verlust von Vertrauen in so manches, was unser „zuhause“, unseren sicheren Lebensraum und unsere Ge- sellschaft ausmacht. Die vergangenen Monate haben uns – nur beispielhaft aufgezählt – gelehrt, dass unsere staatlichen und kirchlichen Institutionen nicht sicher (Missbrauch), die Politiker und MitarbeiterInnen in den Gerichten nicht selbstlos sind; dass die Jugendwohlfahrt nicht imstande ist, ihre Kinder zu schützen, dass selbst Familien kein Garant für das Wohl von Kindern sind („Cain“); dass die Verspre- chen der höchsten technischen Sicher- heit (nur bei Atomkraftwerken?) nicht glaubwürdig sind und selbst die Erde mit ihren Naturgewalten immer unbe- rechenbarer wird; dass ... Alles Erfahrungen (und es gäbe noch viele andere), welche unser Vertrauen in die Menschheit und die Gesellschaft erschüttern und den Vertrauensverlust vorantreiben. Uns im Institut für Sozialdienste treffen solche Erfahrungen immer doppelt: ei- nerseits jede und jeden von uns persön- lich und andererseits, in dem wir erle- ben, wie dieser Vertrauensverlust, dieser Verlust von Sicherheit und Beheima- tung unsere Klientinnen und Klienten (be)trifft, was dieser bei ihnen auslöst und verstärkt. Jede Beratung oder Begleitung, die wir im IfS durchführen, ist immer eine Ar- beit am Grundvertrauen und hat zum Ziel, den steigenden Vertrauensverlust umzukehren in beginnendes, wieder entstehendes Vertrauen. Vertrauen ist ja nie fertig und endgültig. Es kann und muss immer wieder erworben, verstärkt, gesucht und bevorschusst werden. Nur so kann es wachsen und eine tragfähige Basis für Leben und Entwicklung bieten. Gerade in einer Welt, die uns täglich Informationen und Botschaften über Beispiele und Situationen gibt, in denen Vertrauen verloren geht, gerade in so ei- ner Welt ist das tägliche Bemühen um den Aufbau von neuem Vertrauen so wichtig. Das Thema der vorliegenden Zeitschrift des IfS handelt von einem Kernthe- ma dazu. Das Wohnen, Wohnung und „Wohnraum haben“ ist ein ganz wichti- ges Erfahrungsfeld,das Sicherheit bieten und Eingebundenheit vermitteln kann. Dies auch dann, wenn das „Wohnen auf eigene Gefahr“ in manchen – besonde- ren – Lebensumständen zuerst ein Mehr an Risiken und ein Mehr an Herausfor- derungen bedeutet. Vertrauen, so zeigt es sich, kann sich gerade dort ausbilden, wo Menschen neueWege gehen, wo sie im Vertrauen auf sich und die soziale Umwelt das Risiko des Lebens und des Wachsens eingehen. Vertrauen bildet sich – so ist die Erfahrung – ganz nahe beim Risiko, ganz in der Nähe von der Möglichkeit des Scheiterns. Und nicht dort, wo alles (scheinbar) sicher, gere- gelt, fest und unverschiebbar ist. Gerade in einer Welt, in der wir täglich erleben, wie Vertrauen verloren geht, brauchen wir Menschen, die Vertrauen wagen. Ständige Vertrauensverluste können zu dauerhaft fehlendem Ver- trauen führen (das zeigt sich dann in Krankheiten, Störungen, Lebensunfä- higkeit etc.). Oder aber sie führen zu lebendiger Suche nach Vertrauen, zu neuen Orientierungen und zu neuen Lebensentscheidungen (das zeigt sich in Gesundheit, Lebensfreude, aktiver selb- ständiger Lebensgestaltung). Gerade in einer Welt, in der so viel an Vertrauen ständig verloren geht, brau- chen wir Menschen, die sich auf diese Suche nach dem Vertrauen von morgen machen. Wir brauchen die Kinder (und natürlich die Erwachsenen mit einem starken Kind in sich), die an eine Welt glauben, in der man auch Vertrauen fin- den und geben kann. Wir brauchen die Menschen, die im Glauben an dieses Vertrauen sich auch entschieden weh- ren können gegen vieles, das Vertrauen bewusst riskiert und nur auf eigenen Vorteil bedacht ist. Die moderne Krankheit des „Disembed- ding“ ist kein Schicksal. Wir sind ge- fordert, noch genauer hinzuschauen, wer oder was uns Vertrauen raubt, das zu erkennen und mutig aufzuzeigen. Und – noch mehr – in Vertrauen zu investieren. ● Vertrauen und Vertrauensverlust Dr. Stefan Allgäuer IfS-Geschäftsführer

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