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wie 8 „es schaffen“ eigentlich gemeint sein soll. Viele von uns haben es natürlich schon längst bemerkt, diese ständige Jagd nach dem immer schneller, immer weiter, immer höher, immer perfekter, kata- pultiert einen nicht ins Nirwana, sondern – mit einem Burnout, einer Depression oder Angster- krankung – eher in die Klinik. Jede Art von einsei- tiger Zielorientierung ist eine denkbar schlechte Vorbereitung auf das Unvorhersehbare. Positive Aspekte der krisenhaften Orientierungslosigkeit Seit ich als philosophische Beraterin tätig bin, fällt mir auf, dass die meisten Menschen die plötz- liche Orientierungslosigkeit, die mit einer Krise einhergeht, dieses plötzliche Umherirren-Müssen im Ungewissen als absolut unerträglich empfin- den. Niemand hält inne, um sich zu fragen, was denn diese neue Situation zu bedeuten hat, wie man sich verhalten könnte. Die Meisten empfinden das Umherirren-Müssen im Ungewissen als reine Zeit- verschwendung. Kaum einer kann der Tatsache, dass in die- ser Welt nicht alle Probleme eine Lösung haben und nicht alle Wege an das vorausbe- rechnete Ziel führen, etwas Positives abgewinnen. In sol- chen Situationen liegt es an mir, meine KlientInnen dazu zu verführen, die positiven Aspekte der krisenhaften Orientierungslosigkeit viel- leicht dennoch für sich zu entdecken. Was sind das für positive Aspekte? Zum Beispiel, dass wir nur in Krisen lernen, geduldig zu sein. Krisen kön- nen hervorragende Selbstprüfungsübungen und großartige Gelegenheiten zur Selbsterkenntnis sein. Erst wenn wir uns nicht mehr auskennen, bemerken wir, was für ungenutzte Potentiale in uns stecken. Oft frage ich meine KlientInnen, an was sie sich erinnern, wenn sie auf ihr bisheriges Leben zurückschauen. Kein Mensch erinnert sich an die Phasen, in denen alles glatt und routinemäßig lief. In der Erinnerung haften bleiben die Ausnahme- und Grenzsituationen – im positiven wie im nega- tiven Sinne. Diese Situationen machen vielen von uns erst klar, dass es gar nicht darum geht, das nächste Ziel erreicht zu haben, sondern vielmehr darum, seine eigene Moralität, Mitmenschlichkeit und sein Engagement zu kultivieren und weiter- zuentwickeln. Erst aus der Orientierungslosigkeit heraus können wir über uns selbst hinauswachsen und erfahren, dass wir das Unmögliche möglich machen können. Das kunstvolle Irren des Odysseus Angesichts unseres Berechenbarkeitswahns, unserer einschichtigen Ziel- und Lösungsorien- tiertheit würde ich dafür plädieren, dass wir uns ein Vorbild an Homers Helden Odysseus nehmen. Denn Odysseus zeigt uns in wunderbarer und exemplarischer Weise, dass das Umherirren im Ungewissen nicht immer eine Schuld oder eine Strafe sein muss, sondern dass es tatsächlich auch so etwas wie eine Kunst sein kann. Und mehr noch, eine ganz zentrale Lebens- und Überlebens- kompetenz, die wir unbedingt brauchen, wenn wir uns in dieser so verwirrenden Welt zurechtfinden wollen. Odysseus brauchte zehn Jahre trojanischen Krieg und weitere zehn Jahre Irrfahrt, bevor er nach Hause in sein Königreich Ithaka zu seiner gelieb- ten Ehefrau Penelope zurückkehren konnte. Die Odyssee war ja alles andere als eine Kaffeefahrt, alles andere als ein Spaß für Odysseus. Am Ende landete er ganz alleine am Strand von Ithaka, er hatte all seine Gefährten an die Abenteuer, die er bestehen musste, verloren. Aber hätte Odysseus den direkten Weg nach Ithaka genommen, mittels Navigationssystem, mittels GPS oder eines ausgefeilten Zeitmanage- mentsystems – er wäre wahrscheinlich nicht der weise und erfahrene Held geworden, als der er in die Literaturgeschichte einging. Wofür lebe ich? Odysseus lehrt uns, uns freiwillig auf Fremdes und Befremdliches einzulassen, Grenzsituationen mutig und neugierig ins Auge zu sehen und vor allemMut zu haben zur eigenen Unvollkommen- heit, zur eigenen Unperfektion, vielleicht sogar auch zum Scheitern. Was uns Odysseus noch lehrt: Wenn wir lernen wollen, mit Krisen umzugehen und die Umwege, Irrwege, die wir beschreiten müssen, nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern auch durch sie über uns hinauszuwachsen, dann brauchen wir eine Antwort auf die vielleicht grundlegendste lebensphilosophische Frage über- Zur Person Dr. Rebekka Reinhard studierte Philosophie, Amerika- nistik und Italianistik in Venedig, München und Berlin. Sie promo- vierte mit ‚summa cum laude‘ über amerikanische und französische Gegenwartsphilosophie. Heute ist sie als philosophische Beraterin in eigener Praxis sowie im kli- nischen Bereich tätig. Auch ist sie gefragte Referentin, unter ande- rem in der ärztlichen Fortbildung und mit Führungskräften von Unternehmen. Publikationen: Die Sinn-Diät (Ludwig, 2009; Spiegel- Bestseller), Odysseus oder die Kunst des Irrens (Ludwig, 2010), Würde Platon Prada tragen? (Ludwig, 2011)

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