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wie 8 Es war nicht die Angst, die mich laufen ließ. Auch nicht der Schmerz und auch kein steinzeitlicher Fluchtreflex. Was meinen Beinen Flügel schenkte, kann ich bis heute nicht anders beschreiben als so: pure Glückseligkeit. Ein helles Leuchten, verquirlt mit Liebe und Jubel, mit der ungebremsten Kraft eines Feuerwerks, bei dem die bunten Funken steil nach oben fliegen. Ich wusste nicht, wohin mit der Kraft, die da in meinen Adern bebte, die über- schäumen wollte und beinahe zu mächtig war für einen Menschen wie mich. So begann ich laut zu singen. „Schulla hey, schulla ho, schulla hopsassa. Hier kommt die Pippi Langstrumpf ...“, rief ich den Bäumen zu. Und war sicher: Was ich spürte, war Valentinas Kraft, Valentinas Leben. Sie war aufge- wacht, daran gab es für mich in diesen Momenten keinen Zweifel. Ich flog zurück zum Krankenhaus, wollte eben in den Keller laufen, ummein wiederbelebtes Mädchen in die Arme zu schließen. Da sah ich meinen Vater stehen, in einer Ecke des Foyers. Ein weißes Stofftaschentuch zitterte in seiner Hand. Mit solchen Taschentüchern hatte er mir als Kind immer die Nase geputzt. Papas Taschentücher sind für mich ein Zeichen der Liebe, sie vermitteln mir noch heute elterliche Sorge und stummes Einverständnis. Die Botschaft des großen weißen Taschentuchs: Ich verstand sie sofort. „Valentina ist gerade gestorben.“ Mein Vater sprach das aus, was ich bereits wusste. Ich nickte, verstand, akzep- tierte. Der Weg meiner Tochter war entschieden, sie hatte ihn auf tapfere Weise zu Ende gebracht. Und ich? Wie sollte ich das einordnen, was ich gerade eben erlebt hatte? Hatte ich mich geirrt? Hatte das Leben mich auf grausame Weise getäuscht? Nein. So simpel ist die Antwort. Nein, das Leben hat mich nicht getäuscht. Nein, es ist nicht falsch, dass ich vor Glück zer- sprang, während mein Mäd- chen die Grenze nach drüben überschritten hat. Und nein: Ich war nicht übergeschnappt, geblendet vor Kummer oder wahnsinnig vor Schmerz. Für mich gibt es keinen Zweifel an dem, was ich da wirklich erlebt habe: Ich durfte Valentina auf ihremWeg begleiten. Ich habe dasselbe erlebt wie sie, durfte mit ihr gehen, hin bis an die Schwelle der Tür, und für ein paar Augenblicke stand mir der Himmel offen. Was mir da begegnet ist, werde ich nie mehr vergessen. Freude. Liebe. Unendliches Glück. Und eine Vitalität, die alles, was wir lebendig nennen, um das Vielfache eines Vielfachen übersteigt. Ich nahm Abschied, in aller Stille, dabei durfte ich mir alle Zeit nehmen, die ich brauchte. Als ich schließ- lich meinen Weg nach Hause antrat, klaffte kein Loch in meiner Seele. Keine bange, quälende Leere in mir, sondern noch immer diese prickelnde Liebe und ein bebender Atem, der größer war als ich selbst. Tod und Leben Wo stehe ich heute, sechs Jahre nach dem Tod meiner Familie? Ich bin am Leben. Und ich war, wach und mitten im Leben, an der Schwelle des Todes – nicht physisch, im Sinn eines Nahtod­ erlebnisses, aber doch in einer Art, die körperlich real war und die ich bis heute in ihrer Wucht und liebevollen Mächtigkeit spüren kann. Wie gehe ich heute mit dieser Erfahrung um? Am ehesten kann ich es so beschreiben: Ich glaube nicht mehr daran, dass wir durch unseren Tod jemand völlig anderer werden. Totsein und Lebendigsein sind für mich zwei Aggregatzustände der gleichen Substanz. Kein Gegensatz. Ich vergleiche das gerne mit dem scheinbaren Gegensatz zwischen nackt und angezogen. Wenn Sie diese Zeilen lesen, sind Sie vermutlich angezogen und nicht nackt, stimmt’s? Und doch: Die nackte Version Ihrer selbst, die, die gerade noch unter der Dusche stand oder später, abends ihre Kleider ablegen wird, ist ebenfalls da, wo Sie sind. Ihr nacktes Ich wartet nicht im Bett oder im Bad. Es ist da. Ich glaube heute, dass auch der Engel, der Energie- ball, das liebe Wesen, das wir einst, nach unserem Tod sein werden, längst in uns ist. Was macht der Tod? Er zieht uns nur die Kleider aus. Wir müs- sen nicht auf den Tod warten, um wirklich wir selbst, in unserer reinen Form zu werden. Leben ohne Ausrede, Leben ohne meine Kraft und meine Liebe zu vertagen: Das ist die erste Konsequenz meiner Begegnung mit dem Tod. Es gibt nichts, was mich daran hindert, mich dem hellen Wesen in mir zuzuwenden, das nichts anderes will als Feuerwerksfunken der Liebe zu versprühen. Das ist im Leben nicht immer leicht. Doch seit ich mich „Ich durfte Valentina auf ihrem Weg begleiten. Ich habe dasselbe erlebt wie sie, durfte mit ihr gehen, hin bis an die Schwelle der Tür, und für ein paar Augen- blicke stand mir der Himmel offen.“ „Was macht der Tod? Er zieht uns nur die Kleider aus. Wir müssen nicht auf den Tod warten, um wirk- lich wir selbst, in unserer reinen Form zu werden.“

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