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Buchtipp 26 Gehen, ging, gegangen Ein Roman von Jenny Erpenbeck Die Geschichte beginnt im Privathaus des eben emeritierten Berliner Hochschulprofessors, der bereits verwitwet sich in seiner neuen Lebensre- alität zurechtzufinden sucht. Diese Suche nach Lebenssinn und Antworten auf seine innere Leere führt ihn alsbald in ein Flüchtlingsheim, in dem er eher absichtslos beginnt, die Lebensgeschichten einzelner Bewohner zu erfragen, aufzuschreiben und damit nach und nach Beziehungen zu ihnen aufbaut. Dennoch bleiben diese fragil, gleichsam ihrer Lebenswelt. Seine eher naive Herangehens- weise der direkten Hilfe mutet passagenweise skurril an, zeigt sich doch darin ein ganzer Haufen Mit-Menschlichkeit! So gerät er immer mehr in die aktuelle Thematik der Berliner Asylpolitik und unaufhaltsam ver- webt sich sein Leben mit den brüchigen Lebensli- nien seiner Schützlinge. Herausgefallen aus sei- ner bisherigen bürgerlichen Welt verändert sich kaumwahrnehmbar seine Sicht auf seine eigene Geschichte, seine Werte und sein soziales Umfeld. Dieser Roman kommt leichtfüßig daher. Die Spra- che ist einfach, fast banal plänkelnd. Die Ausei- nandersetzungen finden in der inneren und der äußeren Wirklichkeit statt. Der dauernde Wechsel der „Räume“ ist sprachlich sensibel umgesetzt, ohne den Leser dabei zu verwirren. Die sprach- liche Klarheit, die sich die Autorin bewahrt, spie- gelt unsichtbar die Grausamkeit, Kälte und sach- liche Nüchternheit, wie mit den traumatisierten und heimatsuchenden Menschen „verfahren“ wird. Ihr scharfer Blick unter die Oberfläche führt den Leser nahe an die Verzweiflung dieser jungen Män- ner aus Afrika, die ihre Träume im „gelobten Land“ Deutschland begraben müssen. Letztlich kann der Sinn dieses Systems nicht ent- larvt werden. Der Roman ist ab der dritten Seite fesselnd. Ach- tung Nebenwirkung! Das Lesen dieses Buches könnte Sie aus Ihrer sicheren Komfortzone herausholen! Leseprobe „Vielleicht ist das, was Erinnerung ist, mit dem zu vergleichen, was die Männer hinter sich haben, denkt Richard. Wie begrabt man in der Wüste die Toten?, fragt er Apoll. Das war die Frage, die damals unbeantwortet geblieben ist, als der Alarm plötzlich losging. Man schiebt in der Mitte einer Düne den Sand auseinander, macht eine Schneide, dort legt man den Toten hinein. Man betet. Was betet man? Apoll tritt mit Richard ein wenig beiseite in eine Toreinfahrt, in der sie vor dem schneidenden Wind geschützt sind, legt die Hände übereinander, blickt zu Boden und beginnt, das Totengebet zu spre- chen. Unter seinen Füßen ein Gitter, auf dem steht noch aus der deutschen Kriegszeit Mannesmann Luftschutz. Und dann? Dann schiebt man den Sand zurück, über den Toten. Markiert man das Grab irgendwie? Nein, aber man weiß für immer die Stelle.“ (Seite 299) ○ Jenny Erpenbeck Gehen, ging, gegangen Knaus Verlag, 2015 Claudia Wielander MSc. Psychotherapie Vorarlberg claudia.wielander@ifs.at
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