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33 Frühling 2016 Zwischen Freiheit und Sicherheit Das Umhergehen als solches ist noch kein Pro- blem: Oft lassen sich Menschen mit Demenz in ein kurzes Gespräch verwickeln, mit wertschätzender Haltung zu einer anregenden Aktivität bewegen und bekommen so die Zuwendung, nach der sie suchen. Wichtig ist auszuloten, wo das aktuelle Bedürfnis liegen könnte und dieses zu befriedigen: Eine Tasse Kaffee? Ein kurzer Spaziergang im Freien? Problematisch wird das ruhelose Umhergehen, wenn Menschen mit Demenz unbemerkt ihre Wohnung oder das Pflegeheim verlassen und nicht mehr zurückfinden. Oft passiert das ohne der Jahreszeit angepasste Klei- dung oder der Bewohner bzw. die Bewohnerin findet sich im Straßenverkehr nicht mehr zurecht oder einfach nicht mehr zurück. Das Personal in Pflege- heimen steht in diesem Bezug unter großem Druck: Einerseits sind Pflegeheime offene Einrich- tungen, Menschen dürfen hier nicht eingesperrt werden. Ande- rerseits erwarten Angehörige, dass demMenschen mit Demenz nichts passiert. Den Schutz der persönlichen Freiheit aber auch die individuellen Beschränkungen der Bewegungs- freiheit regelt hier das sogenannte Heimaufent- haltsgesetz nach dem Grundsatz „soviel wie not- wendig, so wenig wie möglich“. Zwei Fallbeispiele aus der Praxis Die 85-jährige Frau H. wohnt seit drei Monaten im Pflegeheim. Jeden Mittag wird sie nervös, sucht den Ausgang. In ihrer eigenen Welt ist sie eine junge Mutter, die ihrer siebenjährigen Tochter das Mittagessen kochen und darum jetzt nach Hause muss. Wird sie daran gehindert, indemman sie mit der Realität konfrontiert („Aber Ihre Tochter ist doch auch schon 60 und hat eine eigene Familie.“), ist sie vollends verwirrt, verzweifelt und wird aggressiv. In ihrem Fall haben sich die Angehö- rigen darum gekümmert, dass sie täglich einen Begleitdienst hat: Eine Mitarbeiterin des Mobilen Hilfsdienstes, eine ehrenamtliche Spaziergängerin und auch die Angehörigen decken alle sieben Tage der Woche ab. Nach wenigen Metern außerhalb des Pflegeheims wird Frau H. müde und ist froh, wenn man sie zurück begleitet. Inzwischen hat sie vergessen, warum sie gehen wollte, und nimmt an den Aktivitäten des Nachmittags gerne teil. Herr K., 78 Jahre alt, war vor seinem Einzug ins Pflegeheim obdachlos. Er muss schon um 9:00 Uhr früh „seine Runde machen“. Die Pflegeleiterin hat ihm angeboten, dass der Zivildiener mit ihm geht, aber das möchte er nicht. Er ist zwar sicher im Straßenverkehr, aber ins Pflegeheim findet er meistens nicht mehr zurück. Einmal war er eine ganze Nacht abgängig, im Sommer nicht weiter problematisch, diese Situation kennt er aus seiner Zeit der Obdachlosigkeit. Zuerst wurde versucht, seinen Bewegungsraummit Hilfe von Medikamen- ten zu reduzieren, aber ohne sinnvolles Ergebnis. Er ging weiterhin hinaus, stürzte aber häufig. Inzwischen ist er mit Visitenkarten ausgestattet, auf der die Adresse des Pflegeheims notiert ist mit dem Hinweis, ihn dorthin zurückzubringen. Und – neueste Entwicklung – er hat ein GPS-Ortungsge- rät erhalten, damit sein Standort lokalisiert und er – wenn nötig – abends zurückgeholt werden kann. Für diese Hilfe ist er dankbar. Eine neue Perspektive Ich bin überzeugt, dass es notwendig ist, Demenz aus einer neuen Perspektive zu betrachten und zu akzeptieren: Demenz als eine Formmenschlichen Lebens. Das Wohlbefinden der Betroffenen ist durch die Demenz nicht notwendi- gerweise gemin- dert. Wenn wir Menschen mit Demenz akzeptie- ren, wie sie sind, und uns um eine wertschätzende Beziehung bemühen, braucht es umso weniger Freiheitsbeschränkung. Wie Martin Buber (1878 – 1965) schon erkannte: „Geist ist nicht im Ich, son- dern zwischen Ich und Du“. In diesem Sinne: gemeinsam unterwegs… ○ Brigitte Kepplinger, MA ifs Bewohnervertretung brigitte.kepplinger@ifs.at Wissen ifs Bewohner- vertretung setzt sich auf Grundlage des Heimaufenthaltsgesetzes für die Wahrung der persönlichen Freiheit von Personen ein, die in Pflegeheimen, Behinder- teneinrichtungen und Kran- kenanstalten in ihrer Bewe- gungsfreiheit eingeschränkt werden. „Wenn wir Menschen mit Demenz akzeptieren, wie sie sind, und uns um eine wert- schätzende Beziehung bemü- hen, braucht es umso weni- ger Freiheitsbeschränkung.“

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