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19 Frühling 2017 ten teilt sich die Persönlichkeit. Damit ist gemeint, dass die Person keine Einheit mehr ist. Stellen wir uns vor, ein Kind lebt in einer Familie, in der alles schief geht. Das Kind muss trotzdem schlafen, essen, in der Schule lernen, Freunde haben. Wie schafft ein Kind das, wenn es sich seiner schlimmen Lage völlig bewusst ist? Dann kann es hilfreich sein, sich geistig von dem zu entfernen, was gerade passiert. Bei einem Trauma, v. a. bei chronischen Traumatisierungen, funk- tioniert die Persönlichkeit nicht mehr als eine Einheit. Das schließt auch ein, dass es nicht nur ein „Ich“ gibt, sondern dass es zwei, drei oder noch mehrere gibt, die sozusagen nebeneinander existieren. Besteht bei einem Trauma immer Behandlungs- bedarf? Es gibt Menschen, die etwas ganz Schlimmes erlebt haben und es mit Unterstützung schaffen, zu gesunden. Das zeigt auch die Forschung. Z. B. bei Menschen, die ein Lawinenunglück überlebt haben: „Ich habe überlebt. Ich war unter dem Schnee. Es ist mir passiert. Es war schlimm. Ich habe diese Albträume. Ich habe gedacht, es ist vorbei, aber ich bin gerettet worden.“ Der Betrof- fene schafft es, sich die schlimmen Erinnerungen anzueignen und diese zu integrieren. Manchen Menschen aber, die chronisch in der schlimmen Situation bleiben, gelingt diese Zueignung nicht. Was passiert in der Persönlichkeitsstruktur von schwer traumatisierten Menschen? Eine Teilung, die mehr oder weniger tief sein kann, aber Teilung meint nicht Spaltung. Es ist nicht so, dass man zwei Stücke hat, die nichts mehr mitei- nander zu tun haben. Manche chronisch Trauma- tisierte hören einen anderen Teil in sich reden, sie hören Stimmen im Kopf. Das muss aber nicht hei- ßen, dass sie psychotisch oder schizophren sind. Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es? Zuerst gilt es, die Störung festzustellen, genau nachzufragen, was los ist: „Sie haben von Teilen geredet, welche Teile gibt es? Was machen die Teile miteinander? Versuchen sie, einander zu vermei- den, oder versuchen sie, etwas miteinander zu machen?“ Letztendlich muss alles wieder zusammenge- bracht werden. Wenn das aber nicht passiert, z. B. wenn der Teil Alltag versucht, emotionale Anteile loszuwerden, dann müssen wir uns bemühen, dem Patienten zu helfen. Generell gilt es, das Schlimme, das passiert ist, allmählich zu integrieren, zu sagen: „Es ist mir damals passiert und es hat sehr, sehr weh getan. Es hatte mächtige Konsequenzen für mein Leben, aber es ist jetzt Geschichte.“ Was sind die Folgen, wenn man dies in der Behandlung nicht berücksichtigt? Dann bleibt es so, wie es ist. Es wird sich nichts oder (zu) wenig ändern. Und leider haben wir als Traumatherapeuten immer wieder Fälle, die jahre- lang ohne Erfolg behandelt worden sind, weil die Anteile nicht betrachtet worden sind. Es ist auch nicht gut, wenn wir als Therapeuten mehr fragen, als der Patient verarbeiten kann. Das bringt ihn durcheinander und er fängt an, andere Sachen zu tun, um es irgendwie zu bewältigen, z. B. sich selbst zu schneiden. Als Therapeuten können wir also viele Fehler machen. Was ist die richtige Herangehensweise bei trau- matisierten Klienten? Gibt es spezielle Methoden? Ja, es gibt Möglichkeiten, die natürlich stark kon- textbedingt sind. Ein Beispiel: Eine Frau kommt zu mir. Ihre Teilung der Per- sönlichkeit war nicht bekannt. Sie selbst hat nie erwähnt, dass sie Stimmen hört, da sie dachte: „Dann spinne ich halt, bin verrückt. Aber wenn ich es zugebe, bekomme ich Neuro- leptika oder werde stationär eingesperrt und das will ich nicht.“ Sie kam zu mir, weil die vor- herige Behandlung nicht erfolgreich war. In der zweiten Sitzung bemerkte ich, dass sie Stimmen hört. Denn ich habe danach gefragt, ich habe gelernt, danach zu fragen. Sie sagte: „Es gibt ein Baby in meinem Kopf, das ohne Ende schreit. Ich will mich dann am liebsten durchrütteln, um es loszuwerden. Aber es gelingt mir nicht. Und auf einmal ist es wieder völlig still in meinem Kopf und ich frage mich: Wo ist es denn jetzt hin?“ Ich habe der Frau vorgeschlagen, dieser Babystimme zu sagen: „Ich höre dich. Du bist da, bist in Not und ich höre es.“ In dieser Sitzung hat die Frau erlebt, dass die Stimme ruhiger wurde. Zur Person Ellert R.S. Nijenhuis, Ph.D. ist Psychologe, Psychotherapeut und wissenschaftlicher Forscher. Seit mehr als 30 Jahren ist er mit der Diagnostik und Behandlung schwer traumatisierter Patien- tinnen und Patienten befasst. Er lehrt und schreibt umfassend über die Themen „traumaverwandte Dissoziation“ und „dissoziative Stö- rungen“. Er ist wissenschaftlicher Berater der Clienia Littenheid in der Schweiz und arbeitet mit meh- reren europäischen Universitäten zusammen. Die Internationale Gesellschaft für Studien über Trauma und Dissoziation verlieh ihmmehrere Preise, darunter eine Auszeichnung für sein Lebens- werk. Im Jänner 2017 leitete er im Rahmen von Psychotherapie Vorarlberg eine Fortbildung, an der rund 60 Vorarlberger Psychothera- peuten teilnahmen.

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