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wie 20 Und so fing sie an zu lernen, mit ihren Teilen zurechtzukommen, ersten Kontakt aufzunehmen und den Teilen Anerkennung zu zollen, indem sie sagte „Du bist da“. Sie hörte ganz viele Stimmen. Es gab ein Kind, das schrie: „Tu es nicht, mach es nicht“. Diese Stimme bezog sich auf die sexuelle Gewalt, die sie im Alter von vier Jahren von ihrem Vater erfuhr. Dann war da eine innere Mutter, die so schimpfte, wie ihre eigene Mutter mit ihr geschimpft hatte: „Du verdienst es nicht zu leben, du stellst dich so an, andere Menschen haben es viel schlimmer.“ Sie musste lernen, mit diesen Stimmen zu reden, und sie hat es geschafft. Auch ich als Therapeut habe mit diesen Stimmen geredet: „Sie denken, dass Sie spinnen. Ich habe aber eher den Eindruck, dass Sie ein ganz schwe- res Leben hatten und mächtig kämpften, ummit dem Leben zurechtzukommen. Sie versuchen also etwas aufzuhalten, das kaum aufzuhalten ist. Lassen Sie uns sehen, welche Symptome bei Ihnen auftreten, denn für jedes Symptom wird es einen guten Grund geben.“ Wenn wir so an die Sache herangehen, dann erle- ben die Frauen und Männer, dass das, was sie erlebt haben, nicht als krank oder irre gewertet wird, sondern als „Es ist zwar nicht normal, aber unter Umständen auch nicht abnormal. Es gibt eine Erklärung dafür und man kann Wege finden, um es zu behandeln.“ Das entschuldet auch. Stimmt es, dass man mit Klienten nicht zu oft über das Trauma reden sollte, da dies retraumati- sierend sein kann? Das wäre es, wenn die Menschen keine Unterstüt- zung bekommen würden, um damit zurechtzu- kommen. Lediglich des Redens willen von schlim- men Sachen zu sprechen, bringt nichts. Wenn aber das Diskutieren zu einer Begegnung mit Empathie führt – „Erzählen Sie, was Sie erlebt haben. Fühlen Sie nochmal, wie das genau war und bleiben Sie mit mir in Kontakt.“ – wenn die Patienten das schaffen, dann geht das in Richtung Integration. Sich mit traumatisierenden Geschichten auseinanderzuset- zen, kann sehr sinnvoll sein, wenn es dazu führt, dass die Geschichte integriert wird. Wenn das aber nicht geht, dann würde ich mit dem Klienten eher schauen, was er braucht, damit es gelingt. Wird das von allen Fachpersonen so gesehen? Immer mehr und mehr. Es dauerte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis Trauma auch als Begriff für geistige Verletzungen gebraucht wurde. Die Geschichte der Menschheit weist drauf hin, dass wir als gesunde Menschen diese Art von Verlet- zung lieber nicht anerkennen. Dasselbe gilt für sexuelle Traumatisierungen. Noch im Jahr 1976 stand in einem Standardwerk der Psychiatrie, dass Inzest eine Prävalenz von 1 zu 1 Million hat. Wir wissen jetzt, dass die Zahlen völlig andere sind. Da stellt sich doch die Frage: Wie kann es sein, dass etwas, das so häufig passiert, nicht gesehen wurde? So wie die Patientin ihre Problematik ver- steckt, so tut unsere Gesellschaft das auch. Wir wollen es nicht sehen, sind ignorant. Davon han- delt auch mein neues Buch „Die Trauma-Trinität: Ignoranz – Fragilität – Kontrolle“. Ignoranz, die nicht als Dummheit gemeint ist, sondern als „nicht wissen wollen oder können“, existiert auf allen Ebenen: bei Patienten, bei Betroffenen, bei Tätern. Und warum ignorieren wir? Weil wir fragil sind. Wer kann in unserer normalen Gesellschaft mit demWissen leben, dass eines von zehn Kindern zuhause sehr schlecht behandelt wird? Ab und zu lesen wir in der Zeitung davon, wenn wieder etwas Schlimmes passiert ist. Dann fühlen wir uns alle verletzt, sind fragil und können es nicht mehr ignorieren. Dann verlangen wir nach Kontrolle. Aber wie lange? Eine Woche? Zwei Wochen? Und dann hat man es wieder vergessen. Wenn dann politische Entscheidungen getroffen werden müs- sen und wir fragen als Psychologen ummehr Geld an, um diese gesellschaftliche Problematik besser zu bewältigen, dann stellt keiner Geld zu Verfü- gung, dann wird die Problematik wieder ignoriert, bis etwas Neues passiert… das ist der Kreislauf. Danke für das Gespräch. ○ Das Gespräch führte Julia Kleindinst. Dr. Ellert Nijenhuis Traumaforscher und Traumaexperte Wissen Psychotherapie Vorarlberg gewährleistet die nicht- ärztliche ambulante psycho- therapeutische Versorgung in Vorarlberg. An 13 Standorten stehen 14 im ifs angestellte und 27 niedergelassene Psychotherapeutinnen und -therapeuten zur Verfügung. Leitung: Mag. Kerstin Vogg Telefon 05-1755-540 psychotherapie@ifs.at

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