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21 Frühling 2017 In der heutigen Gesellschaft scheint es, als wäre das Thema Erotik allgegenwärtig und kein Tabu- thema mehr. Das ändert sich, sobald Lust, Leiden- schaft und Sexualität im Zusammenhang mit dem Thema Menschen mit Beeinträchtigung betrach- tet wird. Doch alle Menschen verdienen es, mit ihren Wünschen und Bedürfnissen respektiert zu werden. Ein wesentlicher Teil des Menschseins ist jener der Sexualität. Im Kontext von Menschen mit Beein- trächtigung endet diese liberale Einstellung. Jahr- zehntelang wurden sie als geschlechtsneutrale Wesen verstanden. Die Auswirkungen sind heute noch deutlich zu spüren. Sie erhielten nur wenige oder sogar gar keine Möglichkeiten, einen sexuel- len Selbstausdruck zu finden. Und besonders im familiären und institutionellen Kontext wurden ihre sexuellen Wünsche nicht wahrgenommen, vielfach verleugnet oder sogar unterdrückt. Aufgrund dieses jahrzehntelangen Tabus ist es von großer Bedeutung, nach Formen der pädago- gischen Unterstützung zu suchen und neue Wege zu gehen. Denn Sexualität ist ein wesentlicher Bestandteil von Beziehung. Der Paradigmenwechsel der Leitideen der „Behin- dertenhilfe“ – Normalisierungsprinzip, Empower- ment, Teilhabe und Partizipation – bringt eine veränderte Sichtweise auf Beeinträchtigung mit sich. Dies zeigt sich darin, dass unterschiedlichste Bereiche wie aktive und passive Sexualassistenz, gleichgeschlechtliche Sexualität, Elternschaft kognitiv beeinträchtigter Menschen oder sexuel- ler Missbrauch/sexualisierte Gewalt thematisiert werden. Doch nach wie vor sind Partnersuche, Heirat, Gründung von Familie für Menschen mit Beein- trächtigung um vieles schwerer als für Menschen ohne Beeinträchtigung. Der Wunsch nach gelebter Sexualität ist jedoch vorhanden. Schon lange gibt es das Angebot der Sexualassistenz für Menschen mit Beeinträchtigung, bei der es um Körpergefühl, Nähe, Zärtlichkeit und die Hilfestellung beim Erle- ben der eigenen Sexualität geht. Sexualassisten- tinnen sind speziell dafür ausgebildete Personen. Leider wird dieses Angebot oft unter dem Begriff der Prostitution subsumiert, die in Vorarlberg in der Gesetzgebung unter dem Begriff der Unzucht zusammengefasst wird und in Öster- reich zwar prinzipiell nicht strafbar ist, dennoch einer unter strengen Auflagen liegenden Bewilli- gung bedarf. Wäh- rend Sexualassistenz in Deutschland, der Schweiz und den Niederlan- den erlaubt ist, haben Menschen mit Beeinträch- tigung bei uns im Land nur die Möglichkeit, einen mehr oder weniger illegalen Weg einzuschlagen oder aber Dienste im benachbarten Ausland in Anspruch zu nehmen. Um eine sexuelle Emanzipation zu ermöglichen, bedarf es der Aufhebung des Widerspruchs von Ent- und Bemächtigung des eigenen Körpers. Es liegt daher an uns, ein Bewusstsein für die Thema- tik zu schaffen und sensibel damit umzugehen. ○ Das Recht auf gelebte Sexualität Menschen mit Beeinträchtigung haben Bedürfnisse wie alle anderen auch. Elisabeth Kern Leiterin ifs Assistenz elisabeth.kern@ifs.at „Um eine sexuelle Eman- zipation zu ermöglichen, bedarf es der Aufhebung des Widerspruchs von Ent- und Bemächtigung des eigenen Körpers.“

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