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19 Frühling 2019 In Ihrem neuen Buch „Die Geheimnisse der Krän- kung und das Rätsel des Narzissmus“ beschreiben Sie unsere Menschheitsgeschichte als Kränkungs- Geschichte. Welche Kränkungen treiben uns Men- schen heute an? Jede Einbuße an Verliebtheit, Symbiose und Ide- alisierung löst unbewusste Ängste aus. Die dann einsetzende Kampf-Flucht-Reaktion kann gemä- ßigt und bewältigt werden, wenn es gelingt, Äng- ste in den Dialog der Partner aufzunehmen und gemeinsam zu verarbeiten. Diese Übersetzung von nur teilweise bewussten Kampf- und Flucht- Reaktionen in eine Auseinandersetzung mit Verlu- stängsten ist die zentrale Aufgabe der Psychothe- rapie und hier vor allem der Paartherapie. So lange ein Partner allein „schuld an allen Problemen ist“, so lange er dafür verantwortlich gemacht wird, dass er nicht als Stütze eines primitiven, zwischen (Selbst-)Idealisierung und (Selbst-)Entwertung schwankenden Narzissmus funktioniert, droht der Dialog zwischen den Partnern abzureißen. Was verstehen Sie unter dem „reifen Narzissmus“? Primär löst die narzisstische Kränkung den archaischen Kampf-Flucht-Mechanismus aus: In der unreifen narzisstischen Reaktion auf eine Verletzung wird das Geschehen entweder völlig verdrängt oder verleugnet – oder der Kontakt abgebrochen, der Beleidiger attackiert, eine Stelle gekündigt; impulsive Formen der Ablenkung wie Drogenkonsum und Risikoverhalten greifen um sich. In der reifen Reaktion wird diese primitive Reaktion wahrgenommen, aber auch durch Empa- thie und Reflexion gemäßigt. Die Sehnsucht nach dem Ideal, die Täuschung, es zu besitzen, also die Idealisierung, kippt bei jenen Personen besonders jäh in Gefühle völliger Wertlosigkeit, Schutzlo- sigkeit und Angst, welche heftigen Verletzungen ausgesetzt waren, ehe sich ihre Bindungsfähigkeit genügend gut entwickeln konnte. Der menschliche Narzissmus kann nur angemes- sen reifen, wenn die Bezugspersonen einfühlend auf die Größenphantasie des Kindes reagieren und es diesem so ermöglichen, durch „optimale Versagung“ ein zusammenhängendes, seinerseits zur Empathie fähiges Selbst reifen zu lassen. Fehlt der bestätigende „Funke im Auge der Mutter“, werden die Größenphantasien abgespalten. Es fol- gen narzisstische Störungen, in denen die soziale Anpassung misslingt und sich die Fähigkeit nicht entwickeln kann, Kränkungen ohne destruktives Agieren von Wut und Rache zu verarbeiten. Der Psychoanalytiker hält heute die Omnipo- tenzphantasie für das wesentlichste Zeichen der narzisstischen Welt. Zur Problematik der Konsum- gesellschaft gehört die systematische Stimulation von Phantasien, ein perfektes Leben sei machbar, Tragödien müssten abgeschafft werden. Sie spie- gelt die Umwandlung der Vielfalt menschlicher Kulturen in einen gigantischen Markt, in dem alle das Gleiche wollen und bekommen können, vorausgesetzt, sie haben genug Geld. Auch Helden, Ideale, Vorbilder werden kon- sumierbar und verlieren ihre verbindliche Funktion in der Gesellschaft. Sie sind nicht mehr ernst zu nehmen, nur die Fülle des Angebots täuscht über diesen grundlegenden Defekt hinweg. Das narzisstische Bedürfnis, das sich in Heldengeschichten ausdrückt, kann keine ver- bindliche Gestalt mehr anneh- men und kommt auch nie zur Ruhe. In den kollektiven Phantasien der Gegenwart geht es immer um Grandiosität und Untergang. Kaum hat die Superhelden-Truppe die Welt gerettet, taucht aus den Tiefen des Weltalls der nächste, noch viel mächtigere Superfeind auf und wird nach großen Opfern in letzter Sekunde besiegt. In Ihrem neuen Buch fragen Sie sich: „Sagt ein Bild mehr als tausend Worte?“ Ihre Ant- wort ist: „Falsch. Ein Bild saugt mehr als tausend Worte.“ Wie sehen Sie die Gefahren unserer digi- talen Welt? In der Welt der Bilder geben nicht Charaktereigen- schaften, sondern Vordergrund und Hintergrund den Ausschlag, wie wichtig eine Figur ist. Ähnlich bestimmen in der Talkshow nicht das Gewicht der Argumente, sondern die Selbstdarstellung den Eindruck der Akteure beim Publikum. Ammeisten Beifall erhält unfehlbar, wer eine schlichte mora- lische Position vertritt, die sofort nachvollzieh- bar ist: Kinder müssen vor schlechten Erziehern beschützt werden, Opfer verdienen Empathie und Entschädigung, Verbrecher strengere Strafen, Patienten mehr Schutz vor schlechten Ärzten, Ter- roristen müssen gestoppt werden. Zur Person Dr. Wolfgang Schmidbauer ist Psychoanalytiker, Bestseller- autor und „Die Zeit“-Kolumnist. Seit 1973 arbeitet er neben seiner Autorentätigkeit in freier Praxis als analytischer Einzel- und Grup- pentherapeut sowie als Supervi- sor. 1977 publizierte er den heute noch oft rezipierten Bestseller „Die hilflosen Helfer“ und prägte darin den Begriff des „Helfersyn- droms“. Er war einer der ersten Kritiker der Konsumgesellschaft aus ökologisch-psychologischer Sicht („Homo consumens“, 1972; „Jetzt haben, später zahlen“, 1995) und zählt aktuell zu den meist- gelesenen Fachschriftstellern im deutschsprachigen Raum. Mit sei- nen letzten Werken reflektiert der renommierte Psychoanalytiker die psychosozialen und ökologischen Gefahren unserer ökonomisierten, narzisstisch geprägten Zeit.

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