ifs_zeitschrift_3-11
www.ifs.at Seite 9 cher bereits in der (phantasierten) Er- füllung in einen radikalen, oft auch mit heftiger Entwertung und Ablehnung verbundenen Rückzug mündet. Man- che Patienten mit BPS entwickeln unter Stress paranoide Symptome mit Bezie- hungsideen, magischem Denken und Misstrauen gegenüber anderen Men- schen. Rigide Kognitionsschemata, Al- les-oder-nichts-Denken, Schwarz-weiß- Denken sind vorhanden. Historischer Überblick Verfolgt man den historischen Verlauf der Borderline-Theorie,sobegegnetman diesem Begriff erstmals im Jahre 1884. Der englische Psychiater Hughes be- zeichnete Patienten mit Krankheitsbil- dern, die nicht dem Bild einer Psychose entsprachen, aber auch nicht einer Neu- rose zuzuordnen waren, als „borderland patients“ – Störungsbilder im Grenzbe- reich zu den schizophrenen Psychosen, heute von diesen klar abgegrenzt. Fünfzig Jahre später gelang es Adolph Stern, einem amerikanischen Analyti- ker und Schüler Siegmund Freuds, eine grundlegende psychodynamische The- orie zu erarbeiten, die auf Erfahrungen mit den Patienten in der Praxis fußte. Er stellte fest, dass bestimmte Patienten die Übertragung auf sehr spezifische Weise gestalteten – Idealisierung (the grand size, omnipotence and omnisci- ence of the analyst), Entwertung, psy- chotische Regression, Realitätsverlust in der therapeutischen Situation (the disturbance of the sense of reality only when in the analytic session) – und er stellte Zusammenhänge mit frühesten Entwicklungsstadien und der Mutter- Kind-Interaktion her. Neben zahlreichen anderen Arbeiten ist jene des Psychiaters und Analytikers Otto Kernberg besonders hervorzuhe- ben. Otto Kernberg war im letzten Jahr- hundert prägend für die Entwicklung ei- nes umfassenden Konzeptes für die BPS, dessen Kernbegriff die Borderline-Per- sönlichkeits-Organisation beschreibt. Unter der Persönlichkeitsorganisation versteht Kernberg vor dem Hintergrund psychoanalytischer Konzepte (Ich-Psy- chologie und Objektbeziehungstheorie) ein dauerhaftes psychisches Funktions- niveau. Das Ausmaß der Beeinträchti- gung ist abhängig vom Funktionsniveau der Identitätsintegration, dem Reifegrad der überwiegend verwendeten Abwehr- mechanismen sowie der Fähigkeit zur Realitätsprüfung. Während bei einer neurotischen Form der Ich-Organisa- tion eine integrierte Identität und die Fähigkeit zur Realitätsprüfung gegeben ist und überwiegend „reife“ Abwehrme- chanismen verwendet werden, die sich um Verdrängung gruppieren, werden bei einer Borderline-Form der Ich-Orga- nisation überwiegend „primitive“ Ab- wehrmechanismen verwendet, die sich um Spaltung gruppieren, und es besteht das Syndrom der Identitätsdiffusion. Die Fähigkeit zur Realitätsprüfung ist dage- gen weitgehend intakt, vorübergehen- der Realitätsverlust ist mit den Kriterien Kernbergs zu vereinbaren. Aspekte der Arbeit Kernbergs wurden im Rahmen der OPD (Operationalisier- te Psychodynamische Diagnostik) und der Strukturbezogenen Psychotherapie (Gerd Rudolf) weiterentwickelt und ste- cken handhabbare Rahmenbedingun- gen für die Behandlung der BPS im heu- tigen klinischen Alltag ab. Ursachen Unterschiedliche Gewichtungen gene- tischer, biologischer und psychosozialer BefundeprägtendieUrsachenforschung der BPS. Heute wird ein multifaktorielles Entstehungsmodell bevorzugt, um die Genese der BPS zu erklären. Konstituti- onelle Faktoren („schwieriges“ Tempera- ment, positive Erblichkeit für psychische Erkrankungen, neurologische, bioche- mische Dysfunktionen), psychosoziale Belastungsfaktoren (über 60% der Pati- entinnen mit BPS berichten über Erfah- rungen sexuellenMissbrauchs und/oder körperlicher Misshandlungen) und un- spezifische Auslöser führen in der Inter- aktion und Kumulation zum Ausbruch der Erkrankung. Die Häufigkeit der Erkrankung wird mit deutlicher Frauenwendigkeit (3:1) mit 2% in der Gesamtbevölkerung angege- ben. Der Anteil an BPS in einer psychi- atrischen Klinik beträgt über 15%, Ten- denz steigend. Behandlung – Therapie – Verlauf Die Behandlung der BPS ist eine psy- chotherapeutische. Eine psychopharma kologische Behandlung an sich gibt es nicht. Vielmehr zielt die pharmakologi- sche Behandlung auf die Behandlung einzelner Symptome ab, z.B. der Depres- sion, der Aggressivität, der Impulsivität, der Spannungszustände etc. Als spezifi- sche Therapiemethoden bei der BPS ist die strukturbezogene Psychotherapie (Rudolf), die mentalisierungsgestützte Therapie(Fonagy)unddieübertragungs- fokussierte Therapie nach Kernberg u.a. zu benennen. Im außeranalytischen Bereich war die dialektisch-behaviorale Therapie (DPT) nach Linehan (1987) ein Meilenstein in der Behandlung der BPS. Die Begründerin Marsha Linehan pos- tuliert: „DPT starts, when you are two“. Damit meint sie, dass mindestens zwei Therapeuten bereit sein müssen, mit dem Patienten zu arbeiten: möglichst einer für das Skills-Training (praktische Übungen zur Emotionsregulation, Not- fallkoffer etc.) und einer zum Validieren der realen Not der Patienten. Patienten im ambulanten Setting benö- tigen hierfür eine ausreichende Stabili- tät und Beziehungsfähigkeit, bei Bedarf eine stationäre Krisenintervention. Pa- tienten mit schweren Ich-strukturellen Mängeln sind in der Regel erst nach einer stationären Behandlung, idealer- weise in einer Klinik mit entsprechender Spezialisierung, ambulant behandel- bar. Linehans Postulat umformuliert: Es braucht zwei, den Psychotherapeuten und den Psychiater, in seiner Funktion als Grenzsetzer: Indikationsstellung für die stationäre Aufnahme bei Su- izidalität, schwerer Autoaggression, (pseudo)psychotischer Symptome, Ver- lust der sozialen Integration. Typischerweise beginnt die BPS im Ju- gendalter und nimmt einen oft chro- nisch anmutenden Verlauf im frühen Erwachsenenalter, die Selbstmordrate liegt bei 10%. Häufig ist im mittleren Erwachsenenalter eine Besserung der Symptomatik zu beobachten. Die empirischen Befunde zeigen, dass die Patienten selbst dann funktionell gravierend beeinträchtigt bleiben, wenn die Kriterien der BPS nicht mehr zu treffen. ● Dr. Maria Veraar Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Kinder u. Jugendpsychiatrie Oberärztin im LKH Rankweil/Jugendpsychiatrische Station
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