ifs_zeitschrift_pa_21_sonderausgabe_flippingbook

9 Reformen waren alle Träger sonderpädagogischer Ein- richtungen überfordert hier einzuspringen. So wurden beispielsweise in einem Land Pavillons aus der psychiatrischen Abteilung organisato- risch ausgegliedert und als „Förderwohnheim“ deklariert – was natürlich für die Bewohner keine Änderung der Lebensverhält- nisse bedeutete; vielerorts wurden den Menschen mit Behinderung psy- chiatrische Dia- gnosen verpasst, um dem Gesetzt Genüge zu tun; schockiert hat mich die Aussage einer Chefärztin, die der in Wien und Vorarlberg forcierten Enthospitalisierung nichts abgewin- nen konnte: „Ich behalt die Tschopperl, die retten mir das Budget.“ Diese Patientengruppe belastete nämlich ob des deutlich geringeren personellen Aufwands das allgemeine Budget deutlich gerin- ger. All diese Verbiegungen wurden auch durch die konsequente Durchsetzung des UbG in Folge abgestellt und zwischenzeitlich Menschen mit der Hauptdiagnose intellektuelle Beeinträchtigung österreichweit in zeitgemäße Betreuungsformen entlassen. Stiefkinder der Psychiatrie Als ich 1981 mit der Leitung einer Langzeitabtei- lung mit knapp 300 Kranken betraut wurde, waren davon fast ein Viertel als intellektuell oder mehr- fach behindert diagnostiziert, als Erst- oder Zweit- diagnose. Uns (meine hier immer engagierten Mit- arbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Berufsgruppen mit!) war bald klar, dass wie für andere Kranke auch für diese Menschen Alterna- tiven zu einem Leben in der Anstalt gesucht wer- notwendiger Zwangsmaßnahmen im stationären Bereich wie auch bei gesetzlichen Regelungen für schutzbedürftige Personen. In Österreich sollte der Ersatz des alten Anhaltungsgesetzes durch das schließlich 1991 in Kraft gesetzte Unterbringungs- gesetz (UbG) die Freiheitsrechte psychiatrischer Patientinnen und Patienten besser schützen. Konfliktreiche Anfangsjahre Nicht nur von Seiten der Politik wurde diese Reform als im internationalen Vergleich eine der fortschrittlichsten und patientenfreundlichsten angesehen, von Seiten der Verantwortlichen in vielen Krankenanstalten gab es allerdings Beden- ken und mitunter Widerstand. Angeführt wurden vor allem der starke bürokratische Aufwand, die Sorge um eine ungenügend konsequente Behand- lung schwer erkrankter und rückfallanfälliger Personen, fehlende personelle Ressourcen bei nun offener Behandlung, unzureichende Mittel- ausstattung u. a.m. So waren die ersten Jahre der Gewöhnung an die neue Ordnung auch einiger- maßen konfliktreich, manche Dissonanz musste ausjudiziert werden, gegenseitiges Vertrauen und Respekt mussten in der Alltagserfahrung erst wachsen. Dazu wesentlich beigetragen hat auch, als Juristen statt wie anfangs Vertreter anderer Berufsgruppen mit der Aufgabe der Anwaltschaft betraut wurden. Ohne psychiatrische Erkrankung in der Psychiatrie Im Folgenden beschränke ich mich nun auf einen besonderen und wesentlichen Aspekt des Unter- bringungsgesetzes, wonach die Unterbringung von Menschen mit geistiger Behinderung in psy- chiatrischen Anstalten grundsätzlich nicht mehr zulässig ist. Nur bei Vorliegen einer zusätzlichen und stationär behandlungsbedürftigen psychi- schen Erkrankung soll eine Anhaltung möglich sein. Die Intention des Gesetzgebers war, den oft jahrzehntelangen Aufenthalten dieser Patienten- gruppe in Großanstalten ohne spezielle Förderung ein Ende zu setzen, sie künftig in Kleingruppen, gemeindenah und nach den Prinzipien der „Nor- malisation“ mit heilpädagogisch ausgerichteter Betreuung leben zu lassen. Dieser Passus des neuen Gesetzes stellte nun Anstalten in vielen Bundesländern kurzfristig vor das Problem, österreichweit hunderte Men- schen mit geistiger Behinderung nun außerhalb der Großanstalten zu versorgen. Auf die Schnelle Zur Person MR Dr. Albert Lingg studierte Medizin in Innsbruck und Wien und absolvierte seine Ausbildung im Fachbereich Psy- chiatrie in Wien, Münsterlingen, Heidenheim und Würzburg. 1981 wurde er Leiter einer psychiat- rischen Abteilung sowie Primar im LKH Rankweil. Diese Funk- tion hatte er bis zu seiner Pensi- onierung im Jahr 2014 inne. Zu seinen Schwerpunkten zählten Sozialpsychiatrie, Geriatrie und Suizidprophylaxe. „Zeitweilig lebten über 100 Menschen mit geistiger Be- hinderung über Jahre oder Jahrzehnte in der Anstalt – einem Umfeld, das ihren Bedürfnissen und Handicaps gewiss nicht entsprach, für das es jedoch bis dahin keine Alternativen gab.“

RkJQdWJsaXNoZXIy NTQ2MDY0