ifs_zeitschrift_sib_jubilaeum_16

10 Jahre SIB 34 den, junge Menschen mit frühen Beziehungs- und Bindungsabbrüchen, ausgeprägten psychischen, verhaltensbeeinträchtigenden Störungen und persönlichkeitsstrukturellen Defiziten. Sie erle- ben auf leidvolle Weise Orientierungslosigkeit, Gekränktheit sowie Hass und reagieren darauf mit für alle Beteilig­ ten überflutenden Aggressionen und Gewalt. Bisher wurde ihnen oft mit starren Grenz- setzungen begegnet und angenommen, dass sie sich anhand der von außen ge- setzten Grenzen „im Zaum halten“ können bzw. sich besser anzupassen lernen. Allerdings schei- terten diese Versuche meist und so kam es wieder- holt zu massiven Eskalationen und dem Erleben, dass dem eigenen dissozialen Verhalten wiederum mit Ablehnung und Gewalt, auf welche Art und Weise auch immer, begegnet wurde. Die Spirale von wechselnder Gewalt- und Machtausübung begann unaufhörlich zu rotieren. Muss man, kann man oder darf man diesen Men- schen überhaupt mit Grenzsetzungen gegenüber- treten? Oder muss man nicht vielmehr die gän- gigen Grenzen überwinden? Wozu sind Grenzen eigentlich gut? Das Beispiel einer Schale Eine Schale hat zwar eine Form und Konstitution (hart, stabil, fest), aber an sich weder eine Bedeu- tung noch einen Wert. Füllen wir die Schale mit Inhalt, so wird sie formgebend für den Inhalt und stellt eine Grenze sowohl nach außen (z. B. Schutz vor Einflüssen, Möglichkeit des eigenen Aus- drucks, Filter) als auch nach innen (z. B. vor Verlust des Inhalts, form- und haltgebend) dar. Die Schale gewinnt durch ihren Inhalt an Bedeu- tung. Der Wert der Schale ergibt sich erst in Ab- hängigkeit zur Bedeutung des Inhalts (ist die Form z. B. ungeeignet für die Bedeutung Trinkwasser, so verliert sie an Wert als Trinkwassergefäß; ist die Form ungeeignet zur adäquaten Kommunikation, so verliert sie an Wert als Mittel des Selbstaus- drucks). Wird der Mensch als Schale begriffen, so besteht dabei die Gefahr, dass bei einer Ableh- nung der Darstellung des Schaleninhalts der Mensch dies oft als Ablehnung des Inhalts, sprich seines Selbst, interpretiert bzw. erlebt. Gleich verhält es sich mit dem Inhalt. Fülle ich die Schale z. B. mit Wasser, so hat das Wasser zwar eine Konstitution (dickflüssig, kalt, warm etc. im Sinne einer körperlichen Empfindung), hat aber an sich weder eine Bedeutung noch einen Wert. Auch jedes Verhalten ist zunächst neutral. Wir können diesem Inhalt Bedeutung geben (z. B. Trinkwas- ser, Waschwasser – im Sinne von Assoziationen, Gefühlen) und einen Wert beimessen, der jedoch situationsgebunden ist. Trinkwasser hat beispiels- weise in der Wüste einen anderen Wert als bei einem Tauchgang. Aus der Summe der Attribute Form, Konstitution, Bedeutung, Wert etc. ergibt sich ein Sinn, der in- dividuell und nur direkt erfahrbar ist; d. h. aber auch: „Der Sinn einer Situation, einer Methode, eines Konzeptes kann in der momentanen Lebenssitua- tion eines anderen für diesen völlig sinnlos sein!“ Zerfällt andererseits die Schale, zerbricht die Form (durch zu viel Druck, Forderungen) oder wird sie sogar zerstört (durch Ignoranz, Ablehnung, Ge- walt), so fällt der Inhalt auseinander, verliert sich. Findet dies (wiederholt) während eines Prozesses zur Bildung innerer Struktur (Identifikation) statt, so zerfällt dieses empfindliche Gebilde. Es können sich keine stabile, adäquate Form und keine inneren Strukturen bilden und es muss ein Ersatz „konstruiert“ werden, um die Integrität des gesamten Systems zu gewährleisten. Da dieses künstliche Kon- strukt oft nicht wirklich stabil und adäquat ist, da ihm die natürliche Basis fehlt, muss es mit sehr großem Aufwand stabil gehalten werden und bedroht (sowie dominiert mitunter) ständig das GesamtsystemMensch. Wird dieses Konstrukt angegriffen oder ist es zur Erreichung von Zielen nicht brauchbar (adä- quat), so droht das Gebilde zu zerbrechen und der Mensch erlebt den Verlust seiner Identität. Gibt es außerdem keine anderen Strukturen, auf die der Mensch imMoment ausweichen kann, so droht der Verlust der Funktion des gesamten Systems. Da dies existentiell als höchst bedrohlich erlebt wird, wird der Mensch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, dies zu vermeiden (Aggression, Gewalt, Rückzug, Regression etc.) „Sie erleben auf leidvolle Weise Orientierungslo- sigkeit, Gekränktheit sowie Hass und reagie- ren darauf mit für alle Beteiligten überfluten- den Aggressionen und Gewalt.“ „Der Sinn einer Situation, einer Methode, eines Kon- zeptes kann in der momen- tanen Lebenssituationen eines anderen für diesen völlig sinnlos sein!“

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