ifs_zeitschrift_sib_jubilaeum_16

35 Jubiläum 2016 Das Innenleben steht im Vordergrund Auf Kränkungen reagiert Anna oft hilflos und wütend. Wenn man allerdings bei ihr bleibt und sich als Gesprächspartner anbietet, ihr Zeit lässt, zeigt sie ihre Verletzlichkeit und Tränen. Sie ist dann richtig verzweifelt und es ist wichtig, dass jemand da ist und sie versteht. Ansonsten fällt sie in eine wütende Abwehrhaltung oder in totale Verweigerung, wobei sie auch eigene Nachteile in Kauf nimmt oder freundlich gemeinte Unterstüt- zung ablehnt und zerstört. Beruhigung erfolgt im Kontakt. Anna kann einfach aus der Wut ins Lachen kippen, wenn sie „ertappt“ bzw. gesehen/ „erkannt“ wird. Nach Verweigerung und Ableh- nung, in welcher sie sich akzeptiert erlebt, kann sie gut wieder in Kontakt treten, kann sie das Gewesene anschauen und gemeinsammit dem Betreuer bzw. der Betreuerin neue Wege (Struk- turen) und Möglichkeiten des Ausdrucks (Formen) ausprobieren. Der Fokus unserer Tätigkeit richtet sich auf den Inhalt der Schale. In der täglichen Arbeit der Sozi- alpsychiatrischen Individualbetreuung versuchen wir, einerseits die „Form des anderen zu wah- ren“, durch beständiges Da-Sein und Da-Bleiben Vorhandenes zu stabilisieren, ohne „Falsches“ zu unterstützen, sodass das Bestehende nicht zerbricht; andererseits aber auch begrenzte und begrenzende Strukturen ausklingen zu lassen und durch wiederholtes Vorleben in der Beziehung neue Wege zu vermitteln und zu erarbeiten, um das Wachstum innerer Struktur zu ermöglichen und adäquate Formen des Selbstausdrucks zu erlernen. Generell wird versucht, über selbst- und struktur- orientierte Beziehungs- und Bindungserfahrungen den insgesamt zentralen Entwicklungsrückstän- den und -defiziten zu begegnen, über korrigieren- de Beziehungserfahrungen Ich-Fähigkeiten der Klienten zu fördern und dysfunktionale Persön- lichkeitsmuster zu verändern. Dazu gehört u. a., dass Klienten lernen, mehr und mehr Frustration zu ertragen und daran zu wachsen, Gefühle und Bedürfnisse, Konflikte und Probleme wahrzu- nehmen und von sich aus anzusprechen. Es gilt, Gefühlsabspaltungen von Wut und Ärger zu ver- hindern und gemeinsam Lösungen bzw. Alter- nativen zu den Impulsdurchbrüchen zu finden. Zudem soll die Körperwahrnehmung durch verschiedenste Tools verbessert und defizitäre Orientierung (Selbstschwäche, kaum Selbstwert und Empathie) organisiert werden. Weiters geht es um die Wirkung nach außen: dass Klienten eine Wahrnehmung dafür ent- wickeln können, wie sie auf andere Menschen wirken. Sie lernen, die Reaktionen anderer einzu- ordnen und zu verstehen, um eigenes Verhalten regulieren zu können. Anna einen Spiegel vorzu- halten, erforderte bereits eine gewisse innere Sta- bilität ihrerseits. Sie vorsichtig und Schritt für Schritt mit ihrem eigenen Verhalten zu konfron- tieren, förderte weiter ihre Frustrationstoleranz und sie begann gleichzeitig sich selbst regulieren zu lernen und wurde zunehmend unabhängiger. Anna kann mittlerweile Nähe und Umarmung gut annehmen, sucht diese zeitweise, genießt es, kann sich auch gut wieder lösen. Wenn sie Unterstützung möchte, ist sie fähig, Hilfe ein- zufordern. Seit der SIB-Betreu- ung hat sie Hoffnung geschöpft. Sie sucht ganz deutlich Hilfe und will gesehen wer- den, Aufmerksamkeit erhalten, kann das aber im Moment noch großteils nur über Umwege äußern. Ihre innere Entwicklung hat Fortschritte gemacht (der Inhalt der Schale hat sich verändert) und sie hat sich stabilisiert (die Schale hat mehr Konsis- tenz, ist tragfähiger geworden). Sie kann ihr Ver- halten reflektieren, ist konfliktfähiger und zeigt erste Ansätze von Selbstverantwortung und Selbst- wirksamkeit (Auswirkung ihres Handelns). In den Beziehungen zu den Betreuern ist einerseits ein tragfähiges Bündnis entstanden und anderer- seits sind klare, einzelne Beziehungsgestaltungen möglich. Für Anna ist im Grunde ein Zuhause entstanden – mit Rückzugsmöglichkeiten, Sicherheit und dem Gefühl von Geborgenheit. Ein guter Boden für neue Anforderungen von innen sowie außen, der auch Konflikten standhält und sich somit ein neues Feld öffnet für weitere Prozesse. ○ 1 Name von der Redaktion geändert. Dr. Martina Gasser Leiterin der Fachgruppe ifs Sozialpsychiatrische Individualbetreuung Peter Schmuck Ehemaliger SIB-Mitarbeiter „Seit der SIB-Betreuung hat sie Hoffnung geschöpft.“

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