ifs_zeitschrift_sib_jubilaeum_16

10 Jahre SIB 40 Das motivationale System „Bindung“ steht mit einem anderen motivationalen System, dem Er- kundungssystem, in einem engen Wechselkontakt. Beide Systeme stehen in Abhängigkeit zueinander – ähnlich einer Wippe. Habe ich gute Bindungen, fühle ich mich als Mensch gehalten, gesehen, ge- liebt, mit altersgerechten Freiheiten und Aufgaben zur Selbstentfaltung ausgestattet, so werde ich höchstwahrscheinlich die Welt erkunden, erobern und mich in einem fortwährenden Prozess des Lernens befinden. Verhält es sich jedoch nicht so, so kann dafür die fehlende innere Basis ein Grund sein. Dieser junge Mensch wird sich häufig in Si- tuationen wiederfinden, in denen ihn die Angst vor dem Fremden und Neuen bestimmt. In dieser emotionalen Haltung kann das angestrebte Ler- nen nicht sehr ausgeprägt oder entspannt statt- finden. Auch notwendige Anpassungsleistungen oder die natürliche Regulation von Impulsen sind eingeschränkt. Mit Bindungssicherheit die Welt erkunden Bindungssicherheit ist eine Voraussetzung für kognitive und emotionale Lernprozesse. Deshalb werden Bindungsstörungen gerade im Zusammen- hang mit neuen Lebenssituationen und/oder dem Erleben (neuer) traumatischer Ereignisse offen- sichtlich. Wenn sich dann in einem jungen Men- schen ein Gefühl von Bindungssicherheit ausbrei- tet, weil die Angst sozusagen durch die Nähe zur Bindungsperson gedämpft wird und Beruhigung entsteht, kann Lernen besonders gut stattfinden. Dann ist ein Säugling, ein Kind, ein Jugendlicher oder auch ein Erwachsener in der Lage, sich der Welt zu öffnen und sie zu erkunden, indem er sich von seinem natürlichen Neugierverhalten leiten lässt. Mit einem inneren Gefühl von Bindungssi- cherheit kann man den sicheren Hafen verlassen, um die Welt segeln und dabei wissen, wo im größ- ten Sturm Zuflucht wäre. Wenn ein junger Mensch mit einer Bindungs- störung in eine neue Lebensumgebung oder Lebenssituation kommt, hat er Angst und sein Bindungsbedürfnis ist oft maximal aktiviert. In allen möglichen bindungsrelevanten Situationen ist Angst ein ständiger Begleiter. Die jungen Men- schen mit Bindungsstörungen sind von ihrer emo- tionalen Entwicklung erst eineinhalb oder zwei Jahre alt, obwohl sie biologisch etwa schon in der Adoleszenz sind, sodass das emotionale Entwick- lungsalter und das biologische Alter weit ausein- anderklaffen. Diese Diskrepanz führt immer wie- der zu Missverständnissen und Eskalationen. Ein Gewinn für das Leben Mit ihrem aktivierten Bindungsbedürfnis richten sich die Menschen an den Betreuer mit der Hoff- nung, es möge sich für sie vielleicht erstmals im ganzen Leben eine neue Chance zu einer sicheren Bindungserfahrung eröffnen. Gleichzeitig haben sie aber auch große Angst, dass sich die alten Er- fahrungen von Missachtung und Gewalt erneut wiederholen könnten. Dennoch gelingt es oftmals, dass bindungsför- dernde, feinfühlige Erlebnisse möglich werden. Jede neue Interaktionserfahrung des jungen Menschen mit einem Betreuer wird neuronal als Muster sozusagen „abgespeichert“ und regis- triert. Sind diese neuen Erfahrungen kontinu-

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