ifs_zeitschrift_sib_jubilaeum_16

10 Jahre SIB 52 ihr Ohr, gedämpft von außen. Die Stimme wollte etwas von ihr, so drang es an ihr Bewusstsein. Die Angriffe gegen sich selbst wurden unterbro- chen durch das seltsame Vergnügen ins Fleisch anderer einzudringen, dort ihre Spuren einzukrat- zen, ihr Leben dort einzubrennen, ihr Leid dort zu verewigen. Das Fleisch der anderen platzte, öff- nete sich und das Blut rann in kleinen Rinnsalen die Haut entlang, hinterließ ein Muster, das sie immer verzauberte und sie wieder an das Gefühl erinnerte, das sie bei sich empfand und das durch den Schutzwall, den man um sie gebaut hatte, ver- hindert wurde. Die Schreie der anderen, die durch das Eindringen in die Haut entstanden, erinnerten sie an das Summen in ihrem Kopf und es erinnerte sie an das Leben, das in ihrem Kerker zu Ende ging. Das Lebendigsein erwachte im Schmerzgeschrei und Blutgerinnsel der anderen, nur kurz, schein- bar belanglos. Doch es gab Impulse wie das Pulsie- ren des Schmerzes, das sie daran erinnerte, nicht verloren zu sein. Wofür brauchte man Hände, auch die waren mit Schloss im Schutzwall umschlossen, die Übel- täter, die es nie lassen konnten, ein Fleckchen durchscheinende Haut zu suchen. Trotz aller Ein- schränkungen des Gesichtsfeldes sahen die Augen schnell das Fleckchen Haut, das durchschimmerte, und blitzschnell nützten die Hände die kurze Frei- heit, vom Schutzwall befreit zuzuschlagen und ihre Befreiung aus dem Kerker zu genießen und dann den Erfolg für sich zu verbuchen, die Erleich- terung im Gelungenen zu feiern, die Haut zu zer- stören, Schicht um Schicht um Schicht. Wozu sollte sie sonst die Hände benützen, die ver- schlossen im Raum vor sich hin warteten, nicht gebraucht wurden als die Werkzeuge, für die sie erschaffen wurden. Geschaffen sich an- und aus- zukleiden, zu waschen, das Haar zu bürsten, zu essen und die Umgebung zu fühlen, zu greifen. Nicht mit allen stofflichen Dingen des Lebens hatten die Hände die Erfahrung, diese richtig zu gebrauchen. Doch die Erfahrung des sich selbst Zerstörens und der anderen wohnte ihnen inne, sie hatten gelernt, die Schnelligkeit des Greifens ziel- strebig zur Vernichtung einzusetzen. Das mechanische Hinunterpressen des Essbaren vollzog sich automatisch und unterbrach die Fa- desse des Tages für kurze Zeit. In die kurz erho- bene Öffnung des Visierhelms verschwand das Essbare in der Mundhöhle und bahnte sich dort seinen Weg in die Tiefe. Die panische Angst der anderen, dass in der Höhle anderes verschwand als Essbares, hielt sich und so schloss sich das Visier verlässlich nach getaner Arbeit. Zurück in dem Raum, der ihr die Sicherheit bot, eine Matratze vorzufinden und sich auf der auszu- ruhen, nach der Anstrengung des Nichtstuns und der Nahrungsaufnahme, ging sie den Weg in der Enge des Zimmers auf und ab, immer wieder und wieder, beflügelt, ihren Stimmbändern Kraft und Ausdruck zu verleihen, den anderen zu zeigen, sie sei noch da, ihre Existenz bemerkbar zu machen bis zur nächsten Unterbrechung, die selten vor- kam. Selten unterbrach man ihren Lauf und wenn, spürte sie das Unbehagen und die Angst der ande- ren, die Verständnislosigkeit ob ihres Tuns, die nicht Begrifflichkeit ihrer Zerstörung und Selbst- vernichtung, die Ausweglosigkeit der anderen, die gleichzeitig ihre Ausweglosigkeit untermauerte und sich für immer in ihren Geist brannte. Welcher Weg führt zurück ins Leben? Nicht leben- dig eingemauert imKörper und Geist, die imNichts- tun verankert und festgekettet sind, Ankerketten, die selbst nicht zu sprengen und von außen nicht zu öffnen sind. Wozu gibt es ein Sein, wenn es aus- schließlich zum Erhalt der Körperfunktionen dient, Nahrungszufuhr und Nahrungsabgabe. Die Angst und Hilflosigkeit der anderen trieb sie immer mehr in die Vernichtung und jeder noch so reißfeste Schutzanzug stärkte ihren Geist, den Schutzwall zu durchbrechen und zu überwinden und sich der eigenen Vernichtung hinzugeben. Es gab eine Veränderung in ihrem Leben. Sie nahm andere Stimmen wahr, Stimmen, die sie zum Auto brachten und mit ihr wegfuhren, weg von ihrer ge- liebten Matratze. Die Matratze fand sie wieder in einem anderen Raum, in einem anderen Haus. Der Blickwinkel wurde frei, das so vertraute Kopf- gestell verschwand und die Augen sahen erstmals wieder die Weite der Welt. Sie blickte in die Nacht und sah die funkelnden Glitzersterne ohne Gitter vor den Augen und sie sah das Funkeln am Him- mel so, wie es war. Es gefiel ihr. ○ Mag. Elvira Joan Muchitsch Expertin für Autismus

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